Minden / Bad Oeynhausen. Neugierig schaut sich Natalias zehn Monate alter Sohn das Bilderbuch an, dann ist auf einmal das Spielzeugauto interessanter. Der Blick der Mutter wandert zum Handy – vielleicht kommt ja eine Nachricht von ihrem Mann, der in der Ukraine bleiben musste. „Er hat uns bis zur polnischen Grenze gefahren“, sagt die junge Rechtsanwältin.

Von dort aus schlug sich Natalia mit ihrer Mutter Sina, Baby und Kinderwagen in vollgestopften Zügen über Krakau, Berlin und Hannover bis ins nordrhein-westfälische Bad Oeynhausen bei Minden durch. Zunächst wohnten die drei dort bei Freunden, dann ließen sie sich bei der Stadt registrieren und bekamen ihr Zimmer im alten Pfarrhaus im Dorf Bergkirchen. Zwölf ukrainische Flüchtlinge aus vier Familien leben derzeit in dem 140 Jahre alten Backsteinbau, alles Frauen und Kinder. Insgesamt ist hier Platz für 25 Personen.

„In der Woche vor Ostern sind die ersten Gäste eingezogen“, sagt Cord Neuhaus, Vorsitzender des Presbyteriums der Kirchengemeinde Bergkirchen. Bereits wenige Tage nach Beginn des Krieges in der Ukraine beschloss die Gemeindeleitung in einer Sondersitzung, der Stadt das seit einem Jahr leerstehende Pfarrhaus als Unterkunft für Geflüchtete anzubieten. Die Kommune griff zu – sie muss laut Neuhaus keine Miete bezahlen, übernimmt aber als Betreiberin die Nebenkosten. Auch Betten und Matratzen und eine Grundausstattung mit Elektrogeräten hat sie bereitgestellt.

Bis das Gebäude besenrein übergeben werden konnte, hatte die Gemeinde „anstrengende Wochen“, erzählt Neuhaus. In einer großen Spendenaktion wurde das Haus mit seinen sieben Zimmern, zwei Bädern, einer Küche, dem großen Wohn- und Esszimmer voll eingerichtet: von Oberbetten mit Bettbezügen über Kleiderschränke, Stühle, Tische, Lampen, Handtücher und Fernseher bis hin zu Spielzeug, Sportgeräten, einer Küchenausstattung und – ganz wichtig – einem leistungsfähigen W-LAN zur Kommunikation der Flüchtlinge mit daheim.

„Wir wurden hier empfangen wie zuhause“, dankt Ludmilla fast überschwänglich für das Engagement der Gastgeber. Mit ihren drei jüngsten Kindern – 13 bis 17 Jahre alt – und einer Nichte ist sie aus einem Dorf nahe der Grenze zur Belarus geflohen. Die ersten Tage in Bergkirchen habe sie nicht einmal einkaufen gehen müssen: „Lebensmittel, Zahnpasta, Seife – alles war da, sogar die Betten waren bezogen“, sagt die Hausfrau.

Sorgen macht sich Ludmilla um ihre älteren Kinder, die noch in der Ukraine sind. Einer der Söhne sei gerade 18 geworden, daher habe er nach Kriegsbeginn nicht mit ausreisen dürfen. Vorgestern habe der junge Mann aus Lwiw angerufen und erzählt, dass er zwei Raketen gesehen habe, berichtet die Mutter.

Natalia ist froh über das gespendete Spielzeug und die Babykleidung: „Wir sind so schnell los gefahren, ich konnte nicht viel mitnehmen.“ Über ihr Handy hält sie ständig Kontakt mit Angehörigen und Freunden in der Heimat, so auch zu einer Cousine in Butscha bei Kiew: „Sie musste sich zwei Wochen im Keller verbarrikadieren und hat viele Raketen gehört.“ Am Ende sei für sie alles gut gegangen, die Russen seien wieder weg. Von der Cousine habe sie auch Schreckliches über die Tötung vieler Zivilisten durch russische Truppen in Butscha gehört.

Cord Neuhaus und Thore Niestrat vom Presbyterium kommen nach ihrem Job täglich ins Pfarrhaus und sehen nach dem Rechten. „Wir wollen den Familien nicht nur ein Obdach bieten, wir fühlen uns auch verantwortlich für die Leute“, sagt Neuhaus. Bei rechtlichen und organisatorischen Fragen sucht er Rat beim Flüchtlingsreferat des Evangelischen Kirchenkreises Minden, der auch mit Spenden hilft. Von der Stadt Bad Oeynhausen besucht inzwischen eine Sozialarbeiterin die Geflüchteten.

Über eine WhatsApp-Gruppe haben sich über 40 Unterstützer aus Bergkirchen und Umgebung vernetzt. Die Freiwilligen übernehmen Fahrten zu Ämtern oder zum Einkaufen, bieten Sprachunterricht an oder helfen beim Übersetzen – so wie Lena. Die gebürtige Ukrainerin lebt seit zehn Jahren in Deutschland und dolmetscht zwischen Gastgebern und Gästen. „Ich bin fast täglich hier“, sagt sie. „Wenn ich helfen kann, helfe ich, es sind doch Leute aus meiner Heimat.“

Wie lange Natalia und Ludmilla mit ihren Familien in Deutschland und Bergkirchen bleiben, hängt natürlich vom Kriegsverlauf in der Ukraine ab. Ob die Frauen hier eine Arbeit suchen wollen? Beide winken ab. Natalia ist mit ihrem Baby rund um die Uhr ausgelastet. Ludmilla hat mit ihren drei Teenagern genug zu tun, kocht und wäscht und hält ihren kleinen Haushalt in Gang. Mitten im Gespräch mit den Frauen klingelt es an der Tür. Cord Neuhaus eilt hin und öffnet: Eine weitere Mutter aus der Ukraine und ihr vierjähriger Sohn sind im alten Pfarrhaus von Bergkirchen neu angekommen.

 

(Text von epd / Thomas Krüger, Bild von privat / Cord Neuhaus)