Anfang März waren sie wieder da und hatten Mindens höchst gelegenes Fremdenzimmer im obersten Stockwerk des Marienkirchturms bezogen: die Wanderfalken. Schon Tage später lagen vier Eier im Gelege, aus denen vier flauschige Nachwuchsfalken schlüpften. Und im Mai bot sich wieder dieses jährliche Schauspiel: Vier inzwischen fast ausgewachsene Jungvögel sitzen in einer Reihe auf dem obersten Turmsims und warten, bis der erste den Mut für seinen ersten Flug bekommt. Andere Vögel können das Fliegen üben. Wanderfalken müssen es beim ersten Versuch bereits können. Flieg Vogel oder stirb. Ein Absturz aus 45 Metern Höhe geht nicht gut aus.
Falken sind in der christlichen Symbolik keine Sympathieträger. Sie machen Jagd auf kleinere Vögel, die für uns das Angenehme und Nützliche verkörpern. Singvögel, Insektenfresser und vor allem der Friedensvogel, die Taube, stehen auf ihrer Speisekarte ganz weit oben. Deshalb werden Falken, obwohl sie immer noch geschützt sind, auch heute noch Opfer von Giftanschlägen, Eierraub und Nestzerstörungen durch Menschen.
Wenn Mut und Entschlossenheit gefordert sind, sind Wanderfalken dagegen gute Ratgeber. Die Kirche der Gegenwart steht vor Aufgaben, die nicht aufgeschoben und nicht delegiert werden können und deren Lösung in der Geschichte keine Vorbilder kennt. Es müssen Entscheidungen getroffen werden. Und niemand weiß, ob die Ergebnisse zum erwünschten Ziel führen. Es braucht den Schritt über den Abgrund – mit dem Mut eines Jungfalken. Er ahnt, zum Fliegen geboren zu sein. Sein Weg ist bereits vorgezeichnet. Er sieht ihn aber erst, wenn er startet. Auf der sicheren Seite zu bleiben, ist keine Option. Und Rückblicke sind in dieser Lage fatal. „Wer seine Hand an den Pflug legt und sieht zurück, der ist nicht geschickt für das Himmelreich“, sagt Jesus. (Lukas 9, 62)
Jedes Jahr Ende Mai bekommen wir Anrufe von aufmerksamen Nachbarn, die einen Jungfalken gerettet haben. Einige dieser ersten Flugversuche enden in Kellereingängen, auf Autodächern, Gartenmauern oder Regenrinnen. Mut braucht das „Wir“. Gescheiterte Versuche brauchen eine nächste Chance. Auch darum weiß die Kirche. Sie kann nie tiefer fallen als in Gottes Hände.

Frieder Küppers

Frieder Küppers

Pfarrer, Evangelisch-Lutherische Kirchengemeinde St. Marien, Bezirk St. Marienkirche