Minden. „Wenn in China ein Sack Reis umfällt, fließt der Ozean über“, sagt ein altes Sprichwort der buddhistischen Tradition und meint damit, dass alles, was Menschen tun, (oft ungeahnte) Auswirkungen auf andere Wesen und auf die Gesamtheit des Kosmos hat. Welche Auswirkungen wird es haben, wenn die – großenteils nicht transparent gemachten – gigantischen Pläne von Chinas Entwicklungsstrategie zur wasserwirtschaftlichen Nutzung des tibetischen Hochplateaus umgesetzt sind, einer ökologischen Großregion, in der die wichtigsten Fluss-Systeme Asiens ihren Ursprung haben? Über dieses Thema referierte Tenzyn Zöchbauer, Geschäftsführerin der Tibet-Initiative Deutschland e.V., in einem Vortrag in Minden anlässlich der Ausstellung „GewaltFreiheit Tibet“, die von der Mindener Tibet-Gruppe in der Offenen Kirche St. Simeonis gezeigt wurde.
Tibet, wegen seiner Nähe zum Himmel neben Nord- und Südpol auch „der Dritte Pol“ genannt, versorgt traditionell die Bevölkerungen von elf asiatischen Staaten mit dem Lebenselixier Wasser. Ein Viertel der Weltbevölkerung lebt von Wasser, das dem tibetischen Hochland entspringt. Technokratische Eingriffe in das hochkomplexe Ökosystem dieser riesigen Region auf „dem Dach Asiens“ – erst recht, wenn im politischen Kontext keinerlei öffentliche Diskussion und Kontrolle möglich sind – können verheerende Folgen haben, weit über Tibet hinaus – zusammengefasst in der Formel: „Tibet dries, Asia dies“ („wenn Tibet austrocknet, stirbt Asien“). Zahlreiche wasserwirtschaftliche Mega-Projekte stehen auf der Prioritätenliste, viele sind seit der Besetzung Tibets durch die Chinesische Volksrepublik im Jahr 1958 bereits, ohne Einbeziehung der lokalen Bevölkerung bzw. gegen deren Willen und auf deren Kosten, verwirklicht worden. Die ökologischen, ökonomischen und sozialen Folgen sind in steigendem Ausmaß in Tibet selbst und in den südasiatischen Nachbarländern zu spüren. Einerseits kommt durch die chinesischen Umleitungen tibetischen Wassers nach Norden in den südlichen Ländern weniger Wasser an, andererseits kommt es zu dramatischen Überschwemmungen, wenn chinesische Staudämme unvermittelt größere Mengen Wasser ablassen. Die Flüsse führen weniger nährstoffreiche Sedimente mit, die für die traditionelle Landwirtschaft wichtig sind, und die Fischwirtschaft ist bedroht, weil durch Dämme und Umleitungen die Wanderrouten der Fischarten zerstört werden. Hinzu kommen die zirkulären Folgen des globalen Klimawandels, die sich im tibetischen Hochland durch Abschmelzen der Gletscher und Auftauen der Permafrost-Böden besonders negativ auswirken (CO-2 – Freisetzung und damit Verschärfung der Erderwärmung).
Nicht nur in Tibet / China, auch in anderen Weltregionen (wie den Anrainer-Staaten an Eufrat, Jordan, Nil, Amazonas) wird die Ressource Wasser immer mehr zum internationalen Konfliktstoff und politischen Druckmittel. Wichtigste Forderung der Referentin: Über die traditionelle menschenrechtlich fokussierte Solidarität mit Tibet hinaus muss zunehmend die ökologische Frage – im gesamtasiatischen und globalen Kontext – thematisiert werden. Im Anschluss an den Vortrag gab es viele Rückfragen – unter anderem die (von der Lehrerin einer Mindener Chinesisch-AG gestellte) Frage, inwieweit im Kontext chinesisch-deutscher Schulkooperationen kritische Themen angesprochen werden sollen und können. Spielräume hierzu bestehen teilweise mehr als oft gedacht und sollten sensibel wie deutlich genutzt werden: Ökologie ist nicht innere Angelegenheit eines (!) Staates, sondern geht die ganze Menschheit an. Und, was westliche Gesprächspartner heute bei ihrem kritischen Blick auf das Vorgehen Chinas nicht vergessen sollten – die gigantische Ausplünderung und Zerstörung Chinas durch europäische Kolonialmächte im 19. Jahrhundert.
(Beitrag von Pfarrer Andreas Brügmann / Offene Kirche St. Simeonis)